Chronik

Die Entstehung der Kolonie

Der Zeitraum zwischen 1890 und 1910 war im Raum Beeskow geprägt von einer „Landflucht“ arbeitsfähiger Männer und Frauen. Diese und überwiegend junge Familien zogen mit Beginn der Industrialisierung in die Großstadt Berlin um dort ihr Glück zu finden und ihre Familien zu ernähren zu können. Als Folge dieser Entwicklung war in dem ländlich geprägten Umfeld von Beeskow bald ein Mangel an Arbeitskräften in der Landwirtschaft vorhanden.

Durch den hohen Zustrom von Menschen, die aus allen Himmelsrichtungen gleichermaßen nach Berlin strömten, ergab sich hier im Laufe der Zeit ein gegenteiliges Problem wie in den ländlichen Gebieten – eine hohe Arbeitslosigkeit.

Am 31. Mai 1910 versammelte sich im Reichstagsgebäude zu Berlin eine bunt gemischte Gesellschaft. Abgeordnete der verschiedensten Parteien, Regierungs- und Stadträte, Praktiker aus der kommunalen Sozialfürsorge, Professoren, Pfarrer und Schriftsteller diskutierten über Arbeitslosigkeit und Strategien zu ihrer Bekämpfung. Es war keine von der Reichsregierung einberufene Expertenrunde, die sich an diesem prominenten Ort zusammenfand. Die Einladung kam vielmehr von einem unabhängigen Komitee. Unterzeichnet hatte sie ein Privatmann, der Journalist und Schriftsteller Hans Ostwald.

Als die Herren den Reichstag wieder verließen, hatten sie einen Beschluss gefasst, der die Erwartungen, mit denen Ostwald und seine Mitstreiter in diesen Abend hineingegangen waren, vollauf erfüllte. Einhellig war die Gründung des „Vereins für soziale Kolonisation Deutschlands“ befürwortet worden.

Sein Zweck ließ sich mit wenigen Worten umreißen: Arbeitsbeschaffung für vorübergehend erwerbslose Industriearbeiter der großen Städte, insbesondere Berlins.

Die Gewerkschaften schätzten ihre Zahl allein in Berlin auf 100.000, die städtischen Behörden hingegen auf 20.000, repräsentative Statistiken wurden zu dieser Zeit noch nicht geführt. Der Verein wollte in den unerschlossenen Heide- und Moorgebieten des Deutschen Reiches brachliegendes Land ankaufen und dieses von Arbeitslosen urbar machen und für eine Besiedlung herrichten lassen. Die derart geschaffenen Kolonien sollten verpachtet bzw. verkauft werden. Mit dem erwirtschafteten Geld sollte sodann der Ankauf neuer Ödländer finanziert werden, auf denen wiederum Arbeitsplätze für Arbeitslose entstehen sollten.

Auch wenn der Verein diese Pläne nur in geringem Maße verwirklichen konnte und bereits 6 Jahre nach seiner Gründung unrühmlich Konkurs anmelden musste, so verbirgt sich hinter seiner bislang unbekannten kurzen Geschichte doch das für die wilhelminische Epoche einzigartige Experiment einer Hilfe für Arbeitslose durch privat initiierte Arbeitsbeschaffung.

 

Nach der Gründung wurden als erste öffentliche Zuwendung 1.000 Mark aus dem Dispositionsfond des Reichskanzlers dem Vereinskonto gutgeschrieben, jeweils 3.000 Mark vom Innen- und Landwirtschaftsministerium folgten. Weitere Zuschüsse kamen vom Magistrat Berlin, dem Preußischen Kultusministerium und dem Brandenburgischen Provinz-Ausschuss. Bis zum Jahr 1915 addierten sich die Subventionen, die in die Vereinskassen gespült wurden, auf den imposanten Betrag von insgesamt 260.000 Mark. Darüber hinaus konnten private Spenden namhafter Firmen und Privatpersonen verbucht werden.

Chronik_Seite 1
Chronik_Seite 2
Chronik_Seite 3

Mit den ersten Geldern kaufte der Verein in Reppen (das heutige Rzepin, Polen), östlich der Oder, ein 400 Morgen großes Stück Ödland an. Dort sollte die erste Kulturarbeitsstätte entstehen. Mit den Arbeitsämtern von Berlin und Charlottenburg waren bereits Verträge geschlossen worden, sie vermittelten Arbeitslose und zahlten für jeden verpflichteten Mann einen Lohnzuschuss. Schon bald wurden in Reppen die Arbeiten aufgenommen. Das Land wurde entwässert, rigolt und gedüngt, Straßen angelegt und die ersten Grundstücke für die Bebauung hergerichtet. So konnten in kurzer Zeit auf fünf Parzellen Häuser errichtet und an siedlungswillige Familien übergeben werden.

Zur Besichtigung der kleinen Kolonie lud der Verein im Juni 1912 ein. Neben Politikern und Praktikern waren auch zahlreiche Journalisten erschienen. Die großen deutschen Zeitungen berichteten nicht nur bei dieser Gelegenheit recht wohlwollend über die Aktivitäten des Vereins. „Es ist also möglich“, erklärte Ostwald, für den der durchschlagende Erfolg der Vereinsidee nunmehr erwiesen war, in einer Ansprache, „in Krisenzeiten größere Massen von Arbeitslosen ohne erhebliche Kosten und Vorbereitungen in kleinere Orte zu verteilen und sie bei der Urbarmachung von Ödland zu beschäftigen“.

Die Beamten im Reichsamt des Inneren, die die Aktivitäten des Vereins aufmerksam verfolgten, gelangten zu einem anderen Fazit. Sie bemängelten, dass in Reppen lediglich 82 Arbeitslose Beschäftigung gefunden hatten, die meisten von ihnen nur kurzfristig. Mit wie wenig Erfolg das eigentliche Anliegen, nämlich Arbeitslose in Lohn und Brot zu setzen, tatsächlich umgesetzt werden konnte, lässt sich auch an den für das Jahr 1914 veröffentlichten Zahlen ablesen. In diesem Jahr entfaltete der Verein seine größten Aktivitäten. Auf mittlerweile sieben Kulturstätten wurden insgesamt 933 arbeitslose Männer eingesetzt. Von diesen waren aber lediglich 23 für eine Dauer von mehr als 20 Wochen beschäftigt worden, die restlichen hingegen nur für deutlich kürzere Zeitspannen.

Auch blieb die Zahl der errichteten und bezogenen Siedlungshäuser gering. Neben der inzwischen gewachsenen Reppener Kolonie konnten nur im märkischen Beeskow siedlungsfähige Parzellen vorgewiesen werden. Das preußische Landwirtschaftsministerium bemerkte dazu, die Leistungen des Vereins seien so unbedeutend, „daß sie füglich durchaus entbehrt werden könnten“. Aber obwohl die verwendeten öffentlichen Gelder in keinem günstigen Verhältnis zur Zahl der beschäftigten Erwerbslosen standen, gab es weiterhin einflussreiche Fürsprecher in den Ministerien. Sie sorgten dafür, dass die Zahlungen nicht gestoppt wurden.

Zu diesem Zeitpunkt war Ostwald angestellter Geschäftsführer des „Vereins für soziale Kolonisation“ und wirtschaftete mit den ihm anvertrauten Vereinsgeldern nach Gutdünken. Bis zu 50 Prozent des jährlichen Etats verwendete er allein für Propagandazwecke. Er ließ aufwändige illustrierte Broschüren drucken und gab eine kostspielige Hauszeitschrift heraus.

Gravierender aber war, dass auf sein Betreiben zahlreiche Gelände für neue Kulturarbeitsstätten über Kredite finanziert gekauft wurden. Ostwald verfolgte hochfliegende Pläne, er wollte ein reichsweites Sozialwerk aufbauen. Der Verein besaß zuletzt Ödland an zehn verschiedenen Orten, darunter in entlegenen Landstrichen Niedersachsens und Westfalens, konnte aber keinen Nutzen daraus ziehen, da er nicht über die Ressourcen verfügte, die Ländereien zu erschließen.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs brachte den Verein in akute Bedrängnis. Obwohl die Arbeitslosenzahlen in den ersten Kriegsmonaten deutlich anstiegen, gelang es nicht mehr, geeignete Arbeitskräfte zu rekrutieren. 1915 mussten sämtliche Kulturarbeiten eingestellt werden, auch zogen etliche Bewerber auf Siedlerstellen ihre Anträge zurück. Die finanzielle Lage spitzte sich schließlich so sehr zu, dass die Verpflichtungen gegenüber Lieferanten, Bauunternehmern und Kreditgebern nicht mehr erfüllt werden konnten. Der Konkurs musste beantragt werden, und im September 1916 wurde der „Verein für soziale Kolonisation Deutschlands“ liquidiert.

 

Quellen:

Ralf Thies: „Schafft geregelte Arbeit“, Hand Ostwald und der Verein für soziale Kolonisation

Stadtarchiv Beeskow

 

Die Chronik wird fortgesetzt!

Plan der Parzellen der Kolonie

Plan der Parzellen der Kolonie